Das Thema Traum gehört buchstäblich auf die „Nachtseite“ der europäischen Denktradition. Unter den möglichen Gegenständen des wissenschaftlichen Nachdenkens hat der Traum keinen wichtigen Platz. Auch die Philosophie berührt das Thema nur selten – und oft einfach als negativen Kontrast: Wer träumt ist nicht rational zurechnungsfähig. Der Traum erscheint also als Verwandter der Illusion, der Täuschung, des Trugbildes, er ist der Gegenspieler des Bewußtseins und der denkenden Vernunft. Dies ändert sich erst mit der Bewegung der Romantik im 19. Jahrhundert und mit der Psychoanalyse Freuds. Die Vorlesung erzählt gleichwohl nicht einfach eine Kulturgeschichte des Traums oder eine Geschichte der Traumtheorien. Ihr Gegenstand ist nicht der Traum, sondern die Fragen nach der Differenz , für die die Traumerfahrung steht. Das ist folgendermaßen gemeint:Für uns heute ist der Traum dadurch definiert, sich von einer „Wirklichkeit“ scharf zu unterscheiden. Nicht allein die Frage nach dem Traum soll daher der eigentlich Gegenstand der Vorlesung sein, sondern eben diese Unterscheidungslinie zwischen dem Traum und der „realen“ Welt. Nach dem Traum fragen soll immer auch heißen, nach dem zu fragen, was Wirklichkeit heißt. Mit anderen Worten: Die Vorlesung „Der Traum“ fragt nicht nur nach verschiedenen Theorien des Traums oder nach der Geschichte der Traumtheorien, sondern nach der Art und Weise, in der man in verschiedenen Epochen etwas als einen „Traum“ von etwas anderem unterscheidet , das als nichtgeträumte Realität – als „wirklich“, als wachwirklich gilt. Wie ist die Differenz von Traum und Wachwirklichkeit beschaffen, wie funktioniert sie und – diese Frage steht in letzter Konsequenz dahinter: Welche Funktion hat diese Differenz? Warum unterscheiden wir etwas als „wirklich“ von etwas als „bloß geträumt“ und welchen Stellenwert hat diese Unterscheidung? Es gibt eine These im Hintergrund der Vorlesung. Sie lautet: Nicht nur das, was wir jeweils für wirklich halten, sondern die gesamte Differenzierungsform, die wir Wirklichkeit nennen, ist historisch relativ. Die Form namens Wirklichkeit ist eine gewordene Form, und möglicherweise gab es sie gar nicht immer. Verhielte es sich so, dann wäre auch ein Stück Geschichte der Wirklichkeit in der Geschichte des Traums zu lesen.
Datum:
Dozenten: Prof. Dr. Petra Gehring
Semester: WiSe 2004/05
Themenbereiche: Geisteswissenschaften
Bereiche: Philosophie
Sprache: deutsch
Links:
Vorlesungen:
- Immanuel Kant: Anthropologie 01.10.2004
- Einführung 01.10.2004
- Antike 01.10.2004
- Gesellschaft ohne Repression 01.10.2004
- Existentielle Psychologie. Binswanger. Foucault 01.10.2004
- Artemidor von Daldis: Das Traumbuch 01.10.2004
- Arthur Schopenhauer: die Welt als Wille und Vorstellung 01.10.2004
- Gegenwirklichkeit 01.10.2004
- Platon: Theaitetos 01.10.2004
- Der Schlaf der Vernunft 01.10.2004
- Hirnforschung. Geschichtlicher Rückblick 01.10.2004
- Seelenwissenschaft 01.10.2004
- Das Unbewußte und der psychische Apparat 01.10.2004
- Die Realität der Psychoanalyse 01.10.2004
- Freud 01.10.2004
- Literatur 01.10.2004
- Sigmund Freud: Die Traumdeutung - Irmas Traum 01.10.2004
- Glaube und Vernunft. Christianisierung 01.10.2004